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Veröffentlicht am 12. November 2022

Der normative Anspruch

Eigentlich ist diese Überschrift eine echte Phrase mit zwei Worthülsen. Es gibt keine eindeutige Definition des Prädikats „normativ“. Genauso ist das Wort „Anspruch“ ohne Kontext völlig bedeutungslos. Anspruch muss definiert werden. Das ist ein erster Versuch zu einem Thema, das mich schon lange beschäftigt.

Derzeit steht ein Buch auf den Bestsellerlisten, dass sehr gut in den Zeitgeist passt. „Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann – eine Journalistin, die wir häufig in den gängigen Talkshows sehen. Die These des Buches ist einfach und einleuchtend: Kapitalismus basiert auf Wachstum, Wachstum benötigt immer mehr Ressourcen, eine Welt mit begrenzten Ressourcen kann nicht ständig wachsen – die Schlussfolgerung ist naheliegend: Kapitalismus ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit und zerstört unseren Planeten.

Kritiker dieser Ansicht halten dem entgegen, dass die Alternative – die ja von vielen Nationen erprobt wurde und in einigen Staaten immer noch gelebt wird, also der Sozialismus und seine Endstufe der Kommunismus – noch viel schlimmer ist. Überall bedeutet Sozialismus die Einschränkung von Freiheit und Stillstand in der Entwicklung. Und in der DDR haben wir gesehen, dass Sozialismus keinesfalls die Schonung natürlicher Ressourcen bedeutet hat. Kapitalismus scheint wie ein Motor zu sein, der die Entwicklung der Menschheit forciert. Und die letzten Jahrzehnte geben diesem Argument recht.

Welche Ansicht ist nun richtig? Schwarz oder Weiß? Laut Marx gilt folgendes: Wenn nicht Maschinen den Produkten Wert zufügen, sondern nur die Arbeit, dann untergräbt der technische Fortschritt ab einem bestimmten Punkt den Kapitalismus.

Der Wirtschaftsjournalist Paul Mason glaubt, dass wir diesen Punkt mit der Informationsgesellschaft erreicht haben. Es fehlt also quasi eine Norm, die sich einem Anspruch annähert, der völlig immateriell ist. Der Anspruch ist dabei eine variable Abstraktion, die sich nicht quantifizieren lässt, die eine Gesellschaft anstrebt, nie erreicht und dennoch alles dafür tut, diese Norm auszufüllen. Man erkennt das daran, dass absolut alles, was Thema von aktuellen Diskursen und Politik ist, genau diese Abstraktionen zum Thema hat.

Alle reden von und mit solchen abstrakten Begriffen. Freiheit. Sicherheit. Bildung. Gesundheit. Digitalisierung. Mobilität usw .

Zwei Beispiele, die zeigen, dass Marx These korrekt ist:

Die Abstraktion „Gesundheit“

Karl Lauterbach, unser Gesundheitsminister, versucht aktuell eine gigantische Reform auf den Weg zu bringen, die einen großen Fehler im Bereich Pflege und Gesundheit korrigieren soll, nämlich die Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Eine der fatalsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Aktuell werden Krankenhäuser mit sogenannten „Fallpauschalen“ vergütet, d.h. die Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes wird pauschal bezahlt. Möchte man daraus einen Profit erzielen, dann muss man sparen – je weniger ausgegeben wird, desto rentabler die Pauschale. Da man an der medizinischen Leistung selbst nicht sparen kann – eine vielleicht etwas naive Vorstellung – wird an allem anderen gespart, insbesondere an Dingen wie Pflege und Hygiene. Dieser Mechanismus führt zu einem Teufelskreis. Weniger Menschen müssen mehr Pflege leisten oder werden schlechter bezahlt oder von Menschen verdrängt, die für weniger Geld arbeiten. Die Folgen dieser Entwicklung haben wir in der Pandemie gesehen und sehen wir derzeit.

Die Abstraktion „Sicherheit“

Ein noch viel einfacheres Beispiel: die deutsche Rüstungsindustrie exportiert für viele Milliarden Waffen ins Ausland. Aber unsere eigene Bundeswehr hat noch nicht mal ein Gewehr, das geradeaus schießen kann. Warum: weil auch hier die Abstraktion einer ökonomischen Quantifizierung unterzogen wurde.

Müssen wir also das Prinzip dieser Quantifizierung und den Kapitalismus gänzlich aufgeben? Alles verstaatlichen und vereinheitlichen? Nein, sicher nicht, denn die Lösung ist weder schwarz noch weiß.

Der normative Anspruch muss immer dann definiert werden, wenn es sich um einen abstrakten Begriff handelt, der – da undefiniert – keiner Quantifizierung unterliegen kann. Marktwirtschaftliche Prinzipien können also durchaus weiterhin gelten, wenn es um rein materielle Dinge geht. Der Markt kann weiterhin den Preis für Kleidung, Elektronik, Autos und sämtliche Konsumgüter regeln. Denn diese Dinge sind quantifizierbar.

Abstrakte Begriffe hingegen können nur mit einem Anspruch definiert werden. Und der Anspruch muss immer das sein, was das Beste für unsere Gesellschaft ist. Ein kranker Mensch muss im besten Gesundheitssystem aufgehoben sein, welches daher keinem ökonomischen Profitzwang unterliegen kann. Genauso muss die Ausschreibung für die Ausrüstung eines neuen Gewehres für unsere Soldaten nur ein Ziel haben – unsere Soldaten und Soldatinnen müssen ohne Diskussion das beste Gewehr bekommen. Genaugenommen bräuchte es hier gar keine Ausschreibung.

Die Ausformung des normativen Anspruchs muss also geplant und konkret sein. Wer mehr Digitalisierung im Bildungssystem fordert, muss konkret definieren, was das heißt. Es reicht nicht, einen Computer in ein Klassenzimmer zu stellen und ihn mit einem Glasfaserkabel ans Internet anzuschließen.

Der normative Anspruch verlangt also eine Mischform aus planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Prinzipien. Die Konsequenz, die daraus folgt, ist logisch: Wachstum ist kein Kriterium mehr. Wachstum normiert nicht mehr länger den Anspruch.

Auch wenn es egal ist, dass weiterhin ein Markt für die Preisfindung eines Konsumproduktes zuständig ist – die Prozentzahl, die ein Wachstum ausgibt, ist nicht mehr relevant.

Daraus ergibt sich ein weiteres Problem, denn es findet ja durch den normativen Anspruch durchaus ein Wachstum statt. Da die Abstraktionen einem absoluten Anspruch implizieren, also eine Art Idealzustand, bedeutet jedes „planen“ ein Anpassen an Umstände und damit auch so etwas wie ein „wachsen“. Aber es lässt sich nicht messen, weil es, objektiv gesehen, abstrakt ist und millionenfachem subjektiven Eindruck unterliegt.

Das Königreich Bhutan versucht so eine Messbarkeit des Abstrakten mit dem Bruttonationalglück. Das wirkt immer sehr naiv, ist aber am Ende des Wachstums die einzige Strategie, den Zweck eines ökonomischen Systems quantifizierbar zu machen. Der Erfolg eines solchen Ansatzes hängt auch von der Abstraktion selbst ab. „Sicherheit“ zum Beispiel, kann niemals absolut zu 100% gewährleistet sein. Dennoch muss das Bestreben, einen solchen Idealzustand zu erreichen, der Motor einer gesellschaftlichen Entwicklung sein. Und er muss ständig angepasst werden. Wir sehen, dass sich die Umstände, die zum Beispiel zur permanenten Neudefinition von „Sicherheit“ führen, ändern können. Unsere „Sicherheit“ soll mit einer aggressiven Weltmacht im Osten jetzt „wachsen“. Ergebnis ist dabei nicht, ob es 100 Milliarden oder mehr Kosten sein werden. Ergebnis wird ein Wahrnehmen von „Sicherheit“ sein. Man darf also nicht die Quantifizierung der Mittel mit dem angestrebten Zustand verwechseln. Und genau das nenne ich einen normativen Anspruch.

In dem Wort „Anspruch“ steckt auch etwas Imperatives. Man hat einen Anspruch an etwas oder an jemanden. Den normativen Anspruch erlegt sich eine Gesellschaft selbst auf. Es ist die einzige Begrifflichkeit, die legitim einen Selbstzweck definiert. Warum sonst, sollte es eine von der Gesellschaft selbst auferlegte Struktur überhaupt geben, wenn sie nicht ausschließlich ihrem Selbstzweck dient?

Ganz konkret bedeutet das:

  • Abstrakte Ansprüche sind normativ und können ihrer Definition nach nicht quantifizierbar sein.

  • Solche abstrakten Ansprüche können daher keinen Marktmechanismen unterliegen.

  • Solche abstrakten Ansprüche sind daher normativ.

  • Wirtschaftliches Wachstum ist keine sinnvolle Kategorie mehr, da eine Gesellschaft ihren normativen Ansprüchen dienen muss.

  • Ein Weiterverfolgen wirtschaftlichen Wachstums als seinen eigenen Zweck bedeutet eine weitergehende Zerstörung endlicher Ressourcen.

  • Die normativen Ansprüche sind ihr eigener Selbstzweck. Sie dienen, da abstrakt, keinem materiellen Zweck.

  • Der normative Anspruch hat – eingebettet in die Umstände und den semantischen Kontext der Abstraktion – immer einen Idealzustand als Ziel, auch und gerade weil dieser nie erreicht werden kann.

  • Normative Ansprüche setzen eine Mischform aus marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Prinzipien voraus.

  • Die politischen Entscheidungen müssen sich an diesen normativen Ansprüchen orientieren und sie müssen die Rahmenbedingungen für gesellschaftliches und marktwirtschaftliches Miteinander bieten.

Jetzt könnte man natürlich sagen, dass all das ja schon der Fall ist. Die Politik schafft Rahmenbedingungen und setzt Grenzen. Das ist korrekt, aber die Politik orientiert sich nicht an normativen Ansprüchen. Sie ist ein Sammelsurium aus Kompromissen von Interessengruppen – mehr nicht. Eine Transformation hin zu einer Orientierung an normativen Ansprüchen wird angestrebt. Gelungen ist sie, wenn unsere Gesellschaft ihre Ansprüche an sich selbst umgesetzt hat und keine natürlichen Ressourcen mehr zerstört.

Was ist also die Erkenntnis und die Intention in diesem Artikel? Wir müssen irgendwie eine Mischform aus Markt- und Planwirtschaft einführen und all unsere Ansprüche aus einer Ökonomisierung heraushalten. Nur das, was quantifizierbar ist, darf marktwirtschaftlichen Regeln unterliegen – Versuche, dass nicht Quantifizierbare zu ökonomisieren müssen ohne Ausnahme unterbunden werden.