Zum Inhalt
Veröffentlicht am 21. Mai 2023

Der semantische Kontext

Fakenews, Cancel Culture oder "flood the floor with shit". Es wird nicht einfacher werden, sich eine fundierte Meinung zu bilden. KI und manipulative Software werden die Polarisierung vorantreiben. Dabei wäre es so einfach, würde man nur eines beherzigen: Zu Fakten kann man gar keine Meinung haben ... .

Ein Essay von Peter Killert.

Es ist tatsächlich so einfach. Und man kann das an einem einfachen Beispiel erklären: Wenn ich mich in einem Raum befinde, dann ist es eindeutiger Fakt, ob es in diesem Raum hell ist oder dunkel. Ob eine Lampe an ist oder nicht. Zu diesem Fakt kann man keine „Meinung“ haben. Das Licht ist an oder es ist nicht an. Jede Meinung zu diesem Thema ist Beschäftigung mit überflüssigem Unsinn. Sowohl die Meinung zu haben, dass das Licht „aus“ ist, während man im Hellen sitzt, als auch die Meinung zu dem evidenten, völlig klaren Sachverhalt auszukleiden, dass das Licht an sei. Ein Fakt ist eindeutig. Eine Meinung dazu zu äußern ist Zeitverschwendung.

Aber mal angenommen, in dem Raum ist ein blinder Mensch – darf dieser blinde Mensch eine Meinung zu diesem Thema haben?

Nein, darf er nicht. Denn er weiß nicht, wovon er redet. Es ist absurd, wenn ein Blinder über das Licht spricht.

Wenn das alles so einfach ist, warum gibt es dann die Vermutung von „Cancel Culture“ und die stetige unterschwellige Intention, dass Meinungen einfach nur deswegen „gecancelt“ weil sie angeblich zulässig in Bezug auf einen Fakt ist, aber einige Menschen sie angeblich einfach nicht hören wollen? Das liegt einfach daran, dass wir zum Einen nicht wissen, ob wir blind sind oder nicht, uns aber für „sehend halten“. Und – noch viel schlimmer – wir wissen, dass wir blind sind und glauben, trotzdem eine Meinung haben zu können. Sagt dann jemand, „Hey Du bist blind – Du kannst gar nicht wissen, ob das Licht an ist“, dann wird dieser Blinde sich darüber beschweren, dass dies ein „Canceln“ sei und er wird behaupten, die Meinung eines Blinden werde gecancelt, aufgrund seines Blindseins.

Wir stellen sehr schnell fest, dass es auf die Umstände ankommt, in denen eine Meinung geäußert werden darf und denen, wo eine Meinung eine Anmaßung ist. Ich nenne diese Umstände den „semantischen Kontext“. Er umfasst das, was mich dazu ermächtigt, eine Meinung haben zu können und eine Meinung haben zu dürfen. Oder – ganz einfach formuliert, als Zitat von Wittgenstein, dem Schlusssatz des „Tractatus logico-philosophicus“: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ – Nicht darübersollteman schweigen. Darübermussman schweigen. Ich muss also empirische Daten nach Logik und Mathematik ausgewertet haben, um eine Meinung haben zu können. Ich sehe das Gesicht meines Gegenübers, also ist es hell im Raum. Ich lese, dass Zehntausende Wissenschaftler aufgrund der Analyse empirischer Daten zu einem eindeutigen Schluss kommen.

Genau das passiert heutzutage nur unzureichend, denn Globalisierung ist Individualisierung. Da kann es sich jeder anmaßen, eine Meinung zu allem zu haben. Wenn der Fakt lautet, es gibt einen menschengemachten Klimawandel, dann gibt es Menschen, die glauben, dazu eine Meinung haben zu dürfen. Und wenn diese den Forschungen (nicht den Meinungen!) Zehntausender Wissenschaftler widerspricht, dann bezeichnen sie die Hervorhebung der Tatsache, dass diese Menschen mit ihrer Meinung außerhalb des semantischen Kontextes stehen, als Unterdrückung ihrer Meinung. Das ist ungefähr so, als würde sich ein Brandstifter darüber beschweren, dass man ihn bezichtigen würde, er hätte mit seinen Streichhölzern zu vielen Menschen ihre Zigaretten angezündet. Mal ganz abgesehen davon, was für eine großkotzige Anmaßung es ist, Menschen suggerieren zu wollen, man hätte Exklusivwissen, dass über wissenschaftlichen Erkenntnissen stünde. Hier kann ich nur sagen, dass mir immer wieder auffällt, dass genau die Menschen, die in ihrem Alltag nichts auf die Reihe bekommen, die z.B. im Beruf es jahrelang nicht schaffen, sich adäquat mit Problemlösungen auseinanderzusetzen, genau diejenigen sind, die das größte Exklusivwissen zu haben glauben. Sie erkennen solche Menschen oft an Facebook-Posts, in denen sie andere Menschen, die einem in ihren Augen Mainstream folgen, Dummheit attestieren. Menschen, die zum dumm seien, die große Weltverschwörung zu durchschauen. „Schatz, wie war Dein Tag? – Ganz furchtbar. Am schlimmsten war aber wie immer die Fahrt zur Arbeit und zurück. Du wirst es nicht glauben, aber mir sind schon wieder hunderte Geisterfahrer entgegengekommen. Alles Idioten.“ Jetzt muss man natürlich aufpassen, dass man hier eine genaue Abgrenzung vollzieht, denn diese von mir beschriebene Polarisierung wird zu einer nie endenden Abwärtsspirale, wenn man nicht eine klare Grenze zieht zwischen einer Meinung zu einem Handeln oder der scheinbaren Option, man dürfe eine Meinung zu Fakten haben. Eine Meinung zu dem Handeln, dass z.B. aus der Bewertung von Fakten folgt, ist nicht nur legitim, sondern wünschenswert. Gerade eben auch das Hinterfragen eines Handelns. Am wichtigsten ist hierbei natürlich das Hinterfragen, ob die Fakten, die einem Handeln zugrund liegen, korrekt sind. Fakten, also die logische Verkettung, die eindeutige Definition einer Information, ist immer atomar in einem gegebenen logischen Zusammenhang, also dem semantischen Kontext. Das Licht ist an oder es ist aus. Der Klimawandel ist menschengemacht oder nicht. An diesen Fakten und an diesem Kontext ändert sich nichts, wenn ich einen Dimmer einbaue oder feststelle, dass sich das Klima auch unabhängig vom Menschen verändern würde.

Darf ich es mir also erlauben, Fakten in Frage zu stellen (was übrigens nicht bedeutet, eine „Meinung zu haben“, sondern was dem Denken als „Zweifeln“ im Sinne Descartes entspricht)? Ja, natürlich, aber auch nur dann, wenn ich mich in diesem semantischen Kontext bewege. Ich kann also das Ergebnis der jahrzehntelangen Arbeit von Wissenschaftlern nur dann anzweifeln, wenn ich entweder über fundiertes Fachwissen verfüge oder ich Arbeiten studiert habe, die in rein wissenschaftlicher Hinsicht diese anderen Fakten infrage stellen. Alles andere ist schlicht nur Gelaber. Es ist substanzlos und dient einer Intention, nicht aber der Anerkennung eines semantischen Kontextes. Und genau das ist es, was die Produzenten solcher „Fakes“ als legitim erachten. Sie glauben nämlich, dass auch hinter der Wissenschaft letztlich nur eine Intention liege, auch nur das Aufzwingen eines Weltbildes, für das man sich einfach die Fakten heraussucht, die genehm sind. „Siehste – der Habeck! Der ist auch nicht besser, als all die anderen Korrupten da oben!“

Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um Absichten, Intentionen, Schlechtmenschen oder Gutmenschen oder Bessermenschen. Es zählt nur der Fakt in einem semantischen Kontext. Nur die eindeutige Information. Selbst wenn wirklich alle Politiker korrupt wären und die Grünen alle nur linksversiffte Heuchler – keine solche „Argumentation“ wird dazu führen, dass sich der Planet abkühlt ... .

Natürlich gibt es eine Wahrscheinlichkeit, dass Tausende Wissenschaftler falsch liegen und alle nur von einer linken Meinungsmaschinerie angetrieben sind. Aber wie wahrscheinlich ist das, wenn die beobachtbaren Fakten in unserer Welt, diese Wissenschaftler bestätigen? Wie wahrscheinlich wird es sein, dass wir mit 100-200 Millionen Klimaflüchtlingen gegen Ende des Jahrhunderts, klarkommen werden, wenn die Gesellschaft von einem Bruchteil dieser Zahl aufgrund von Kriegen schon überfordert ist? Was ist die Lösung dafür? E-Fuels?

Nun landen wir in diesen Ausführungen, bei der letzten Ausflucht, welche die gefährlichste ist. Es ist die Unmöglichkeit des Erfassens der globalen Dimension, in der eigenen kleinen Welt. Wie viele Menschen gibt es, die es gar nicht schlimm finden, wenn es ein paar Grad wärmer wird? Die Antarktis wird eisfrei, wir können dort noch mehr Bodenschätze abbauen und viele Städte bekommen mehr Touristen, da mehr Sonne. Und so etwas wie das Ahrtal hat es früher auch schon gegeben. Der semantische Kontext liegt sehr oft in der Beschränkung durch den eigenen Tellerrand. Ich traue nur dem, was ich sehe. Der Krümel in der Hand ist besser als der Kuchen auf dem Dach.

Meinungen können sich übrigens immer nur auf pragmatische Kontexte beziehen. Schauen wir nach Japan, dann sehen wir, dass Japan als einziges Industrieland auf Wasserstofftechnik als Brennstoffzelle im Auto setzt. Der Strom kommt aus Atomkraftwerken. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Japan, das erste Industrieland sein wird, dass klimaneutral und mit Kreislaufwirtschaft der Zukunft entgegengeht. Die Meinung zu haben, dass Deutschland diesen Weg auch gehen sollte, ist legitim. Es gibt (meiner Meinung nach) aber zu viele andere Argumente, die dagegen sprechen, aber dennoch ist diese Meinung gleichrangig mit allen anderen Meinungen zu diesem Thema. Die Meinungen, die in den letzten Jahrzehnten kaskadieren von „es gibt gar keinen Klimawandel“ bis hin zu „ja, es gibt einen menschengemachten Klimawandel, aber wir können ihn nicht aufhalten, weil wir ja eh Ressourcen vernichten müssen, um zu existieren“ sind jedoch keine legitimen Meinungen, weil sie nicht auf den eindeutigen Fakten ihres semantischen Kontextes basieren.

Fakten erlauben keine Meinungen. Handeln hingegen ist ohne Diversität von Meinungen niemals zielführend.

Wir müssen vor allen Dingen auch damit aufhören, solche unlauteren Argumentationen als Teil von einer schützenswerten Diversität zu betrachten. Es gibt kein Recht auf Dummheit. Niemand, der z.B. regelmäßig Privatfernsehen schaut, wird jemals in der Lage sein, ein glaubhaftes Interesse an einer Verbesserung dieser Welt bekunden zu können. Solchen Menschen bleibt ja gar nichts anderes übrig, als den Idealismus anderer zu belächeln.

Künstliche Intelligenz wird diese Polarisierung noch verschärfen. Sie wird auf Fakten basieren müssen, d.h. so dumm wie der Mensch kann eine künstliche Intelligenz gar nicht sein. Das Künstliche an der Künstlichen Intelligenz ist übrigens nichts anderes, als das Finden des semantischen Kontextes für einen Fakt, um diesen dann als solchen zu verifizieren. Würden wir das notwendige Handeln einer solchen Intelligenz überlassen, dann würden wir einen logischen und damit richtigen Weg gehen. Wir würden uns nicht mehr mit dummen Dingen wie „E-Fuels“, für die der semantische Kontext (an welcher Tankstelle, kann man die tanken?) fehlt, beschäftigen. Es braucht schon ein gewisses Maß an Intelligenz, den semantischen Kontext zu finden und sich ausreichend Wissen für die Beurteilung seiner Fakten anzueignen. Ich glaube, wir sind damit überfordert - aber wenn sie diesen Artikel bis zu diesem letzten Satz gelesen haben, unterstelle ich ihnen zumindest diese Befähigung. Ein Lichtblick vielleicht – in einem Raum mit blinden Menschen oder solchen, die nicht sehen wollen.